Wie alles begann

Eine Rückschau auf den Beginn des  Abibac an der Ziehenschule

Alles begann schon im Jahre 1974 – also 11 Jahre nach dem Elysée-Vertrag – mit der Einführung des bilingualen Erdkunde-Unterrichts in den Jahrgangsstufen 7 und 8 mit Frau Bataille als Lehrerin, ihrem Engagement und ihrer Beliebtheit bei den Schülerinnen und Schülern gerade der Unterstufe. Zwei Jahre später wurde dieser anfängliche bilinguale Zweig um den bilingualen Unterricht in Geschichte der Jahrgangsstufen 9 und 10 erweitert. Mit dem Übergang in die Oberstufe 1978 wurde für die Schülerinnen und Schüler, die im bilingualen Zweig bleiben wollten, das Fach Gemeinschaftskunde (heute Politik und Wirtschaft POWI) zweisprachig deutsch-französisch unterrichtet. 1981 bekamen diese Schülerinnen und Schüler ein Hessisches Abiturzeugnis mit einem so genannten „bilingualen Vermerk“.

Es ist den im bilingualen Zweig unterrichtenden Lehrkräfte zu verdanken, dass sich dieses schulische Angebot in den Folgejahren stark entwickelte. Der bilinguale Unterricht mit den zu vermittelnden Inhalten bedeutete eine besondere Herausforderung. Die Themen entsprachen dem hessischen Lehrplan, sollten aber den Vergleich zu Frankreich ermöglichen. Spezifisch deutsche Themen wurden in deutscher Sprache unterrichtet, Frankreich betreffende in französischer Sprache. Die Quellenfindung war eine besondere Herausforderung für die Lehrkräfte, es gab noch kein Internet und Lehrbücher, wie z.B. das deutsch-französische Geschichtsbuch waren noch in weiter Ferne.

Der bilinguale Zweig der Ziehenschule erfreute sich einer gewissen Beliebtheit in Frankfurt.

Die Schülerzahlen stiegen, die Presse veröffentlichte wertschätzende Artikel („Sogar die Katze miaut auf Französisch“) und der Französische Botschafter S.E. Jacques Morizet („sehr, sehr frappierend“) besuchte im Februar 1986 die Ziehenschule. Auf dem Frankfurter Kulturgipfel im Oktober 1986 und in der gleichzeitigen „gemeinsamen Erklärung der Bevollmächtigten der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages über die deutsch-französische Zusammenarbeit und des Ministers für Erziehung der Französischen Republik“ verständigten sich beide Länder über die Ausarbeitung eines bilateralen Regierungsabkommens zum gleichzeitigen Erwerb des französischen Baccalauréat und des deutschen Abiturs. Die Ziehenschule mit der langen bilingualen Tradition stand im Fokus des Interesses als Pilotschule für ein solches Projekt.

Die bilingualen Curricula wurden erweitert, im Jahre 1987 haben die ersten Schülerinnen und Schüler ein bilinguales Abitur abgelegt, d.h. Gemeinschaftskunde war verpflichtendes Prüfungsfach. Es waren die Bundesländer NRW und Hessen, die dieses deutschfranzösische Bildungsprofil vorantrieben, in Kooperation der Kultusministerien und mit Fortbildungsveranstaltungen für Schulleitungen und Lehrkräfte. Es war eine sehr intensive Zeit und der Elysée-Vertrag schien gerade in diesem Bildungsprofil eine besondere Ausprägung zu erfahren.  

Durch die enge Kooperation mit Gymnasien in NRW und dem intensiver werdenden Interesse der Französischen Schulaufsicht, wurden zwei Pilotschulen auf deutscher Seite gesucht, die das Wagnis der double délivrance de l’Abitur allemand et du baccalauréat francais auf sich nahmen. Die Wahl fiel auf das Friedrich-Ebert-Gymnasium in Bonn und die Ziehenschule in Frankfurt. Später kam dann noch das Wagenburg-Gymnasium in Stuttgart hinzu. Gemeinsame Curricula für die Oberstufe wurden in binationalen Arbeitsgruppen erarbeitet, Informationsbroschüren und Flyer für Eltern und Schulen erstellt, Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte und Schulaufsicht geplant und durchgeführt.

Das größte Problem für fast alle Schulen war die innerschulische Akzeptanz dieses deutsch-französischen Profils. Die Angst vieler Fachschaften, leistungsstarke Schülerinnen und Schüler für die eigenen Leistungskurse zu verlieren, war groß. Das Ablegen eines AbibacAbschlusses bedingte gewisse LK-Kombinationen, andere waren dementsprechend ausgeschlossen. Die Furcht vor anderen Akzenten in der schulischen Planung und neuen Schwerpunktsetzungen wurden deutlich formuliert. Um als Pilotschule von der KMK akzeptiert zu werden, mussten aber positive Schulgremienbeschlüsse eingereicht werden… Im Schuljahr 1988/89 kam es dann nach langer und sehr heftiger Diskussion in der Gesamtkonferenz zu einem positiven Beschluss und mit dem Beginn des Schuljahres 1989/90 konnten die ersten Schülerinnen und Schüler in die Jahrgangsstufe 11 bilingual der Ziehenschule aufgenommen werden.

Dies waren just die Schülerinnen und Schüler, die im Juni 1992 – also genau vor 30 Jahren – als erste den „Gleichzeitigen Erwerb des französischen Baccalauréat und der deutschen Allgemeinen Hochschulreife“ ablegten. Ein Wagnis und eine große Herausforderung für alle beteiligten Schülerinnen und Schüler, deren Eltern und die Lehrkräfte. Schwerpunkt des Unterrichts im Lk-Kurs Französisch Abibac wurde die klassische Französische Literatur; der Geschichts- und Gemeinschaftskunde-Unterricht wurde einsprachig Französisch. Die mündliche Kommunikation musste stetig verbessert werden, denn es galt ja am Ende in einer mündlichen Prüfung in Französischer Literatur vor einer mit französischen Schulaufsichtsbeamten besetzten Kommission das Baccalauréat zu bestehen.  

Die beiden ersten Inspecteurs d’Académie, Monsieur Schilling und Madame Citério, kamen zu Unterrichtsbesuchen an die Ziehenschule. Der Umgang mit der französischen Schulaufsicht stellte sich als eine weitere – nicht geahnte – Herausforderung für Schülerinnen und Schüler und im Besonderen für die Lehrkräfte heraus. Die Anforderungen an den Unterricht und die schriftlichen Arbeiten waren gewaltig; so wurde im deutschen System von den Lernenden Stellungnahmen und persönliche Meinungen erwartet und positiv bewertet (je pense…, à mon avis…) dies wurde aber bei der Korrektur der schriftlichen Arbeiten für das Baccalauréat durch die Inspecteur von diesen mit Punktabzügen geahndet! (Bis heute darf in Frankreich in einer Interpretation die eigene Meinung nicht in der Ich-Form formuliert werden). Das Auftreten der Inspecteur entsprach in keiner Weise dem kollegialen Umgangston, den die Lehrerinnen und Lehrer in einer deutschen Schule gewohnt waren. Man konnte das Gefühl haben, dass hier ein Baccalauréat vergeben werden sollte, das in der Wertigkeit weit über dem deutschen Abitur stand.  

Die ersten Jahre des Abibac waren wohl für beide Seiten eine harte und ereignisreiche Zeit, die von gegenseitigem Lernen geprägt war. Nicht zu vergessen ist dabei, dass das französische Schulsystem der 90iger Jahre – viel stärker als das deutsche – geprägt war von Hierarchien, zentralen Lehrplänen, der Dominanz des Schriftlichen und des Lehrervortrags. In den dreißig vergangenen Jahren haben sich beide Systeme stark angenähert. Die Ziehenschule hat dreißig hervorragende Abibac-Jahrgänge hervorgebracht, mit großartigen Leistungen von Schülerinnen und Schülern, mit lobenden Worten und Ansprachen der Inspecteur, in freundlichem und zum Teil freundschaftlichem Umgangston. An dieser Stelle ist besonders Monsieur IPR Dominique Willé hervorzuheben, der über 10 Jahre mit sehr viel Sachverstand, einer angemessenen Strenge aber auch Empathie und Zugewandtheit den Prüfungsvorsitz für die französische Seite geleitet hat.   

Zum gegenseitigen Lernen gehörte auch der Umgang mit Austauschprogrammen. Schulen mit Abibac Profil suchten nach besonderen Schulpartnerschaften und Austauschprogrammen. Auch hierbei war die Ziehenschule ein Vorreiter für andere Schulen, denn mit Beginn von Abibac stand fest, dass der übliche Austausch mit Tourismusprogramm den Erfordernissen des Abibac nicht gerecht würde. Es sollte im Rahmen von Abibac ein dreiwöchiges Betriebspraktikum mit einer Partnerschule in Bordeaux absolviert werden. Eine Schule in Bordeaux, die bereit war, dies anzubieten, wurde 1988 gefunden, so dass der erste Abibac-Jahrgang in der Jahrgangsstufe 11 zu diesem Abenteuer aufbrechen konnte. Der sprachliche Mehrwert und der Gewinn an Selbstbewusstsein unserer Schülerinnen und Schüler war trotz einiger Schwierigkeiten enorm und überzeugte einige Jahre später auch die dann offizielle Partnerschule Lycée Pape Clément in Pessac.

Sprachliche Totalimmersion in einem Betrieb, in der Familie und bei der Formulierung des Praktikumsberichts beeindrucken alle Beteiligten und ermöglichen eine rapide Verbesserung der kommunikativen Kompetenz. Die Erweiterung dieser Kompetenz steht im Fokus des Unterrichts mit Blick auf die Abibac-Prüfungen am Ende der schulischen Laufbahn. Diesem Ziel muss sich auch das Kennenlernen einer Region wie der Nouvelle Aquitaine mit seinen historisch/geographisch beeindruckenden Aspekten unterordnen.  

Als letztes möchte ich noch auf den Nutzen des Doppelerwerbs von deutschem Abitur und französischem Baccalauréat eingehen.  In unserem immer stärker zusammen gewachsenen Europa ist eine besondere fremdsprachliche Kompetenz im beruflichen Kontext von unschätzbarem Wert. Das Verstehen der Muttersprache des Anderen erleichtert die berufliche Kommunikation auf vielen Ebenen, auch wenn in einer dritten Sprache – meist Englisch – Verhandlungen stattfinden. Der damalige Kultusminister Holzapfel wies in seiner Rede darauf hin, dass die doppelsprachigen Abschlüsse „Beiträge zur Schaffung eines europäischen Bewusstseins sind“ und die Ziehenschule „Schrittmacherqualitäten“ habe. Nicht wenige ehemalige Schülerinnen und Schüler der Ziehenschule haben europäische Karrieren vorzuweisen. Von vielen Lebensläufen ehemaliger Schülerinnen und Schüler ist zu erfahren, dass sie durch Abibac z.B. einen gewünschten Studienplatz erhalten haben, dass sie nach Jahren des Chemie-Studiums als Doktorandin unerwartet zu einem Projekt an die renommierte Ecole Polytechnique entsandt wurden oder auch über einen Studienaufenthalt in Frankreich neue private und berufliche Horizonte für sich entdeckten. Es ist wahr, dass Schülerinnen und Schüler mit Doppelerwerb schulisch größere Anforderungen zu meistern haben. Sie haben in ihrer schulischen Laufbahn ein größeres Lernpensum zu absolvieren, erwerben aber auch ein effizienteres Lernverhalten, was sich im beruflichen Leben positiv auswirkt. Ein bikultureller Bildungsweg und der doppelte Blick auf Kultur und Geschichte sind die Trümpfe des Abibac Profils.

Im Laufe von 30 Jahren hat sich der „Club“ der Abibac Schulen deutschlandweit stetig vergrößert. Aus anfänglich drei Pilotschulen wurden 82 Partnerschulen. Ein großer Erfolg auf dem nicht immer ebenen Weg. Ich wünsche allen Beteiligten weiterhin viel Erfolg für die Section bilingue und Abibac an der Ziehenschule.

Bild 1: P. Theurich, E.-M. Mercker, Dr. C. Michel, C. Rogler
Bild 2: S. Bouffier-Spindler, E. Spyra, M. Riedel

Silvia Bouffier-Spindler, Ehemalige Lehrerin Abibac (Französisch und POWI) und Fachbereichsleiterin an der Ziehenschule, Leiterin des Staatlichen Schulamts Frankfurt i.R., Prüfungsvorsitzende für den deutschsprachigen Teil im Abibac (Abitur) in Frankreich; Fotos: Dr. Christine Michel (23.2.2023)

Beiträge zum Abibac-Jubiläum 2022

Das Abibac gibt es an der Ziehenschule seit 30 Jahren. Wir feiern dies und freuen uns, Ihnen unsere Festschrift "30 Jahre Abibac an der Ziehenschule" vorzustellen. Die Sammlung von Beiträgen von ehemaligen Schülern und Lehrern der Ziehenschule bietet einen einzigartigen Einblick in die Geschichte und die Erfolge unseres Abibac-Programms. Die persönlichen Geschichten und Anekdoten der Autoren vermitteln ein Gefühl für die Bedeutung der bilingualen Ausbildung und lassen uns das besondere Gemeinschaftsgefühl an der Ziehenschule nachvollziehen. 

Festschrift

  • Die Festschrift zum Abibac-Jubiläum "30 Jahre Abibac an der Ziehenschule" am 5. Juli 2022 als pdf

Reden

  • Wie alles begann: eine Rückschau im Rahmen des Jubiläums auf den Beginn des Abibac an der Ziehenschule von Silvia Bouffier-Spindler, ehemalige Lehrerin und Leiterin des Staatlichen Schulamts Frankfurt
  • 30 Jahre AbiBac, 30 Jahre deutschfranzösisches Abitur, 30 Jahre Schülerinnen und Schüler auf das Europa der Zukunft vorbereitet: Rede von Nicola Beer, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments

Grußworte

  • Grußwort zum AbiBac-Jubiläum des Bevollmächtigten der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrags über die deutsch-französische Zusammenarbeit, Ministerpräsident Hendrik Wüst MdL
  • Prêt.e.s pour l'envol - Bereit zum Durchstarten: Grußwort anlässlich 30 Jahre Abibac an der Ziehenschule von Prof. Dr. R. Alexander Lorz, Hessischer Kultusminister 

Impressionen

Berichte

Veröffentlicht in: Bilingual