
Beitrag von Nicola Beer
30 Jahre AbiBac, 30 Jahre deutschfranzösisches Abitur, 30 Jahre Schülerinnen und Schüler auf das Europa der Zukunft vorbereitet.

Die Ziehenschule und ihre deutschfranzösisch bilinguale Ausbildung liegt mir sehr am Herzen. Sie ist ein nicht wegzudenkender Teil meines Lebens und hat mich in jungen Jahren nachhaltig beeinflusst. Mein Leben wäre ein anderes, ohne das Französische im umfassenden Sinn, das ich hier kennenlernen durfte.
Mein Abitur habe ich 1989 gemacht. Damals waren die formalen Voraussetzungen für das AbiBac noch im Entstehen und ein deutsch-französisches Abitur eher ungewöhnlich.
Für mich war es, im Nachhinein betrachtet, großes Glück, dass meine Eltern meine Schwester und mich drängten, die Französisch-Klasse der Ziehenschule zu besuchen. Sie hatten die große Chance einer bilingualen und einer französischen Ausbildung bereits erkannt.
Für mich stand im Vordergrund, nicht von meinen Freunden aus der Grundschule getrennt zu werden. Keine einzige weitere Schülerin oder Schüler aus meiner Grundschule entschied sich für das deutsch-französische Abitur. Dementsprechend skeptisch und unsicher stand ich dem Schulwechsel gegenüber. Heute bin ich unendlich dankbar für den Impuls meiner Eltern, dass letztlich meine eigene Neugier obsiegte und ich den Mut zu diesem Schritt aufbrachte.
Die Zeit an der Ziehenschule war sehr intensiv und prägend, die ich summa summarum sehr genossen habe. Weniger wegen der Hausaufgaben, Klausuren oder Stundenpläne. Das war nervig wie heute sicher immer noch. Doch die Ziehenschule war ein Ort, der meiner Lust auf Neues so viel bot. Und so habe ich sprichwörtlich alles aufgesaugt: von Musik, über Theater und Informatik. Vor allem jedoch Sprachen: Französisch, Russisch, Englisch, Spanisch.
In das Französische über die gesamte Breite der Unterrichtsfächer eintauchen zu können, war ein großes Glück, aber auch ein Privileg.
Durch das Lernen einer neuen Sprache wird die Tür zu einer völlig neuen Kultur geöffnet, die vorher verschlossen blieb und das Kostbare dahinter verbarg. Aus einer ganz neuen Perspektive lernt man über Literatur, Erdkunde, Politik und Geschichte nicht nur über das Nachbarland Frankreich, sondern auch über internationale Verflechtungen, über das „woher“ und das „wohin“ der Nationen, Europas und der EU.
Das öffnet Grenzen und reißt Mauern ein. Physische wie auch mentale im Kopf. Es weitet das Denken und das Herz.
Mein großer Dank gilt den großartigen Lehrkräften der Ziehenschule. Nicht nur eine neue Sprache wurde und wird vermittelt, sondern auch ein Mindset, das immer danach strebt, Grenzen zu überwinden, neugierig auf Unbekanntes zu sein und Verbindungen mit Menschen anderer Kulturen aufzubauen.
Vieles vergisst man nach seinem Abschluss, aber von solch einer Geisteshaltung und Lebenseinstellung zehrt man sein Leben lang. Auch ich ganz persönlich: Nicht zuletzt bei meiner Arbeit im Europäischen Parlament: Offen zu sein für andere Sichtweisen. Neue Kulturen und Menschen aus anderen Ländern verstehen lernen. Kulturelle Vielfalt schätzen, respektieren und dafür werben.
Das Highlight während meiner Schulzeit: Der Austausch in der 7. Klasse mit dem Collège Guist’hau in Nantes. Die erste direkte Konfrontation mit französischer Kultur und Lebensweise. Zwei Wochen in einer Familie, in einer Schulklasse, die ganz anders lebte, arbeitete, aß, diskutierte als wir daheim. Ich habe es geliebt! Es hat mich ungemein bereichert, als junges Mädchen über den Eschersheimer, den deutschen Tellerrand hinausschauen zu dürfen und neben neuen Bekanntschaften habe ich in der siebten Klasse auch meine beste Freundin kennengelernt. Wir sprechen und sehen uns noch mehrfach im Jahr und wir waren gegenseitig Trauzeuginnen. Mir wurde eine zweite, eine französische Familie geschenkt. Die Patenschaft gebührt der Ziehenschule.
Freundschaften über Grenzen hinaus und die ein Leben lang halten. So entsteht ein Europa, über Grenzen hinaus. Und auch: ein Europa der Versöhnung.
Der grenzüberschreitende Austausch war für unsere Eltern als Nachkriegsgeneration noch fremd.
Für meine Mutter, Jahrgang 1937, deren Vater in russischer und französischer Gefangenschaft war, war ein deutsch-französisches Abitur nicht selbstverständlich. Auch in Frankreich traf ich in den ersten Jahren noch oft auf Menschen, die einer jungen Deutschen nicht völlig unbefangen begegnen konnten.
Doch genau solche Projekte waren nach dem Krieg essentiell für die Wiederversöhnung. Das waren die Lehren aus den Folgen des ersten Weltkriegs: langanhaltender Frieden wird nicht nur mit dem Niederlegen der Waffen erreicht, sondern durch ein Zusammenwachsen der europäischen Nationen.
Robert Schuman, der große Vater der europäischen Entwicklung, sagte bereits 1950: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“
Er wurde als Deutscher geboren, studierte in Bonn, arbeitete als Jurist in Metz und wurde über Nacht durch die Annexion Elsass-Lothringens zum Franzosen. Seine Haltung, seine Bereitschaft zur Versöhnung mit dem Erbfeind, dessen Gestapo ihn wegen seines Engagements in der Resistance während des Zweiten Weltkriegs abholte und einsperrte, sein aus tiefer Religiosität entstandener Wunsch von Vergebung und Aussöhnung und seine Vision eines vereinten Europas kostete ihn beinahe die Karriere: Außenminister Frankreichs, sogar Ministerpräsident. Das war er nach dem Zitat aus 1950 nur noch wenige Monate. Doch er beendete sein Berufsleben als erster Präsident des Europäischen Parlaments. Auf seinem Stuhl darf ich einmal im Monat die Parlamentsdebatten leiten. Welche Ehre und Verantwortung.
Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt auf der Basis des Kennenlernens, des gegenseitigen Verstehens, des Brückenbauens, des Zusammenwachsens, des Schaffens gemeinsamer Interessen.
Robert Schumann hatte die richtige Vision: Krieg zwischen den europäischen Nationen sollte unvorstellbar werden. Im Westen ist uns das gelungen. Dennoch gab und gibt es immer noch viele Konflikte in der Welt, die sich an Sprachgrenzen entzündet haben und heute immer noch Grund für Auseinandersetzungen sind.
Denn Sprache ist mit das Persönlichste was ein Mensch hat, über die er seinem Gegenüber auf einer tieferen Ebene begegnen kann. Daher freue ich mich, dass das AbiBac so großen Anklang findet und sich fest etabliert hat. Ich möchte alle Schülerinnen und Schüler motivieren, an der Vertiefung unserer Freundschaft mit Frankreich mitzuarbeiten. Denn auch Freundschaften zwischen Nationen müssen genau wie Freundschaften zwischen „du und ich“ stetig gepflegt werden.
Leider erleben wir in diesen Tagen hautnah, was passiert, wenn das „du und ich“ nicht stetig gepflegt wird.
Die Zeitenwende ist Alltag geworden. Wenn wir morgens die Nachrichten einschalten, hören wir seit Monaten Nachrichten über Krieg in Europa, keine zwei Flugstunden entfernt. Putin führt einen Angriffskrieg gegen die Zivilbevölkerung. Seine Raketen fallen auf Krankenhäuser, auf Wohnhäuser und auf Einkaufscenter.
Stellen wir uns doch einmal vor, junge russische und ukrainische Schüler würden in der 7. Klasse an einem Austausch teilnehmen, so wie ich damals Frankreich erleben durfte. Beide Kulturen kennenlernen und die Unterschiede der miteinander verwandten Sprachen entdecken.
Wäre das gegenseitige Verständnis dann heute anders? Oder würde man jeden Tag hunderte Menschen aus dem Nachbarland töten, unendliches Leid bereiten können, wie es seit dem 25. Februar geschieht?
Durch Programme, wie das AbiBac an der Ziehenschule, aber auch EU-weite, wie Erasmus, lernen junge Europäerinnen und Europäer seit Jahrzehnten andere Kulturen kennen. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Offenheit, das gegenseitige Kennenlernen, das Verstehen, die menschlichen Bindungen maßgeblich dazu beitragen, dass ein Friedensprojekt wie die Europäische Union funktionieren kann.
Das ist wirklich etwas Einzigartiges in der Welt. Das ist ein Modell für eine Welt, wie ich sie mir wünsche. Für uns, für unsere Kinder und unsere Enkel. Eine Welt, in der man sich über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg miteinander austauschen kann – sich versteht und Konflikte ohne Waffen löst.
Von Herzen danke ich denen, die hier an der Ziehenschule ihren Teil zu dieser Welt beigetragen haben und weiter beitragen. Nicht nur, weil sie mir für mein Leben so viel geschenkt haben. Sondern weil das, was hier geschieht, neben all den anderen Aspekten wie der Ausbildung für unsere exportorientierte Wirtschaft, den Freihandel, dem wir unseren Wohlstand verdanken, unserem Gemeinwesen, unserem Zusammenleben in Europa einen tieferen Sinn gibt. Das kann man nicht hoch genug bewerten.
Auf viele weitere erfolgreiche Jahre!
Bilder 1 und 2: Festliche Verleihung der Abibac Zeugnisse,
Bild 3: ... auch für die ehemaligen Abibac-Jahrgänge,
Bild 4: Dank an Frau Mercker und Frau Theurich für ihr Engagement im Bili-Zweig
Frau Nicola Beer, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments; Fotos: Dr. Christine Michel (24.2.2023)
Beiträge zum Abibac-Jubiläum 2022
Das Abibac gibt es an der Ziehenschule seit 30 Jahren. Wir feiern dies und freuen uns, Ihnen unsere Festschrift "30 Jahre Abibac an der Ziehenschule" vorzustellen. Die Sammlung von Beiträgen von ehemaligen Schülern und Lehrern der Ziehenschule bietet einen einzigartigen Einblick in die Geschichte und die Erfolge unseres Abibac-Programms. Die persönlichen Geschichten und Anekdoten der Autoren vermitteln ein Gefühl für die Bedeutung der bilingualen Ausbildung und lassen uns das besondere Gemeinschaftsgefühl an der Ziehenschule nachvollziehen.
Festschrift
- Die Festschrift zum Abibac-Jubiläum "30 Jahre Abibac an der Ziehenschule" am 5. Juli 2022 als pdf
Reden
- Wie alles begann: eine Rückschau im Rahmen des Jubiläums auf den Beginn des Abibac an der Ziehenschule von Silvia Bouffier-Spindler, ehemalige Lehrerin und Leiterin des Staatlichen Schulamts Frankfurt
- Abibac feiert 30 Jahre: Jubiläumsrede von Christiane Rogler, Schulleiterin der Ziehenschule
- 30 Jahre AbiBac, 30 Jahre deutschfranzösisches Abitur, 30 Jahre Schülerinnen und Schüler auf das Europa der Zukunft vorbereitet: Rede von Nicola Beer, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments
Grußworte
- Grußwort zum AbiBac-Jubiläum des Bevollmächtigten der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrags über die deutsch-französische Zusammenarbeit, Ministerpräsident Hendrik Wüst MdL
- Prêt.e.s pour l'envol - Bereit zum Durchstarten: Grußwort anlässlich 30 Jahre Abibac an der Ziehenschule von Prof. Dr. R. Alexander Lorz, Hessischer Kultusminister
Impressionen
- Wie war der Tag des Jubiläums? Das Jubiläumsprogramm und die Danksagung.
- Impressionen des Jubiläums: Musikalische Beiträge und glückliche Abibacheliers.
Berichte
- Bereit zum Durchstarten seit 30 Jahren: AbiBac öffnet Türen für ein erfülltes und erfolgreiches Leben. Bericht von Roland Carls.
- Wir feiern 30 Jahre Abibac. Einladung zur Jubiläumsfeier am 05.07.2022 von P. Theurich, E. Mercker und Dr. C. Michel
Veröffentlicht in: Bilingual